Veröffentlicht am Montag, 18. Juli 2022

Gratwanderung

Wie die Gratwanderung auch zu meiner persönlichen Gratwanderung wurde.

Gratwanderung
Die Gratwanderung vom Brienzer Rothorn auf den Harder bei Interlaken stand in diesem Jahr weit oben auf meiner „To do – Liste“. Ich habe schon so viele Bilder, Bericht und Insta-Stories über diesen ausgesetzten Weg gelesen und ich war fasziniert davon. „Ich will das auch“ hat sich fest auf meine Festplatte eingraviert. Und als letzthin das Wetter ausgezeichnet war und ich einen freien Tag hatte, stand fest: Ich tues! Eureka! Und dass mich ein guter Freund begleiten wollte, war ideal, denn allein diesen Weg zu wandern, erschien mir dann doch nicht vernünftig.
 
Wir nahmen die erste Bahn hinauf aufs Rothorn, und nach dem obligatorischen Kaffee (diesmal kein Kaffi Lutz!) und Nussgipfel gings los. Unsere Vorbereitung war so gut, dass wir gleich zu Beginn einen falschen Weg eingeschlagen haben. Dafür standen wir auf dem Gipfel des Schongütsch und konnten nicht weiter. Also wieder runter und dann rechts. Alles klar. Hier ist der Weg – geht doch.
 
Wir waren aber noch keinen Kilometer unterwegs, schon kam die erste schwierige Stelle. Schwierig? Nun ja, für mich schon. Links und Rechts ging es steil bergab. Halt so wie man es von einer Gratwanderung erwarten kann. Nein, nicht kann, erwarten muss. Und habe ich erwähnt, dass ich nicht besonders schwindelfrei bin? Natürlich weiss ich als Mentalcoach, dass das vor allem eine Kopfsache ist. Dann wenn ich bei uns im Dorf auf einer kleinen Mauer entlanglaufe, wo es links und rechts nur einen halben Meter runter geht, dann kann ich darauf tanzen. Ohne Probleme (über die Fähigkeit des Tanzens kann man auch geteilter Meinung sein). Aber es ist kein Problem. Kein Gedanke an das Runterfallen. Doch jetzt?
 
Sofort beginnt das Kopfkino. Was wenn? Oder weshalb überhaupt? Ich schaue nur auf den Weg und laufe die 10 – 15 Meter über den ersten Grat, bis ich wieder eine Felswand auf der rechten Seite habe. Das Gefühl, das mich nach unten zieht, ist wieder vorbei. Durchatmen. Innehalten. „In mich gehen“. Ich sage mein Mantra auf „Angst beginnt im Kopf – Mut auch“. Zuversichtlicher wanderte ich weiter dem Grat entlang. Ich merkte, dass es auch eine persönliche Gratwanderung wird. Zum einen möchte ich mir beweisen, dass ich diesen Weg beschreiten kann. Dass mein Geist stärker als die Angst ist. Auf der anderen Seite weiss ich, dass dieser Weg für mich äusserst anspruchsvoll ist. Ich schaue mehrheitlich mit dem linken Auge, so dass ich Mühe habe beim räumlichen Erkennen. Mit anderen Worten ich schaue fast nur 2D anstelle 3D. Deshalb stolpere ich auch öfters. Das war während meiner aktiven Ultra-Running Zeit ein grösseres Hindernis. Ab und an kam ich mit aufgeschlagenen Knien nach Hause, weil ich eine Wurzel oder einen Stein nicht gesehen, oder falsch berechnet habe.
 
Als der Weg wieder einfacher wurde, bat ich um eine Pause. Ich musste mir klar werden, wie gross war mein Wunsch, den Weg weiterzugehen und was geschieht mit mir, wenn ich jetzt abbreche. Scheitern ist nie angenehm. Hinterlässt immer einen fahlen Beigeschmack. Habe ich mich nicht richtig eingeschätzt, sogar überschätzt? Wie gross ist die Gefahr, dass ich den Weg nicht meistern kann. Und was geschieht dann?
 
So entscheid ich für mich: „Ich gehe nicht weiter diesen Weg“. Zu gefährlich für mich. Ich teilte meine Entscheidung meinem Lauffreund mit. Zum Glück hatte er die gleichen Bedenken und Gefühle, so dass er gerne mit mir Richtung Brienz lief.
 
Ich erachte Ziele im Leben zu haben als wichtig. Nur wenn ich weiss, was ich will, kann ich auch das bekommen was mir zusteht. Ist der Fokus auf ein Ziel gerichtet, dann geht auch die Energie dorthin. Und eigentlich sollten die ersten Schwierigkeiten nicht das Ziel gleich in Frage stellen.
 
Doch bei dieser Gratwanderung ging es um mehr als nur um ein Ziel zu erreichen. Der Weg war für mich zu gefährlich. Ich möchte noch viel erleben. Ich will Ende Juli/anfangs August von Gondo nach Bern wandern. Und auch sonst habe ich noch so viele Pläne im Leben. Ich musste erkennen, dass ich in meiner Zielsetzung das R in der SMART-Formel falsch eingeordnet habe. Es war für mich nicht (R) realistisch.
 
Die Erkenntnis, dass diese Gratwanderung für mich zu schwierig ist, erachte ich auch jetzt im Rückblick als richtig. War es einfach sich das einzugestehen? Natürlich nicht! War es vernünftig die Gratwanderung abzubrechen? Das allemal.
 
Ziele sind wichtig. Das habe ich schon geschrieben. Es ist aber genauso wichtig, diese ab und an zu Hinterfragen. Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Ist das Ziel noch erstrebenswert oder gibt es ein neues Ziel, das wichtiger ist? Wie fühlt sich die Zielformulierung an? Sich zwischendurch die Frage nach dem Ziel zu stellen, ist genauso wichtig, wie sich einen Plan zurechtzulegen, wie das Ziel erreicht werden kann.
 
Ich für meinen Teil, habe das Zeil „Gratwanderung“ mal zurückgestellt. Hat eine kleinere Priorität. Und vielleicht verschwindet es ganz aus der Liste.
 
Das Leben will gelebt werden. Es lebe die Veränderung!
Kommentare (0)Anzahl Ansichten (1669)

Autor: Edi Westphale